Markenlexikon
Jahrhundertelang wurde das Wissen der Menschheit in Büchern aus Papier, Pappe und manchmal auch Leder festgehalten. Zahlreiche Verlage wie Brockhaus, Bertelsmann, Encyclopedia Americana, Encyclopædia Britannica oder Meyer bemühten sich darum, zumindest einen Teil des verfügbaren Wissens in Lexika oder Enzyklopädien zu kompaktieren. Diese Nachschlagewerke hatten jedoch zwei entscheidene Nachteile: der Platz in ihnen war nicht unendlich (nicht einmal in einem zwanzigbändigen Lexikon) und während sie gedruckt wurden, waren Teile des Inhalts schon wieder veraltet. Auch die in den 1990er Jahren aufgekommenen multimedialen Enzyklopädien auf CD-ROM oder DVD, wie etwa die Microsoft Encarta, konnten zwar schneller und einfacher aktualisiert werden, waren aber vom Umfang her von der Größe der jeweiligen Speichermedien abhängig. Abhilfe schaffte erst das Internet.
Jimmy Donal Wales (* 1966), der eigentlich Finanzwirtschaft studiert hatte, gründete 1996 die Internetfirma Bomis, die zahlreiche werbefinanzierte Diskussionsforen zu unterschiedlichen Themenbereichen betrieb. Im Jahr 2000 begann Bomis damit, eine englischsprachige Internet-Enzyklopädie aufzubauen. Dieses Nupedia genannte Projekt, das im Januar 2000 online ging, hatte einen Chefredakteur (Larry Sanger) und die Autoren waren Experten, die sich mittels Peer-Review-Verfahren gegenseitig korrigierten, um einen hohen Qualitätsstandard der Artikel sicherzustellen. Also nicht viel anders, als in einer herkömmlichen Lexikonredaktion.
Bald wurde den Beteiligten jedoch bewusst, dass diese zentralisierte Wissensaufbereitung zu komplex und langsam war. Anfang 2001 schlug der Programmierer Ben Kovitz, ein Mitglied des WikiWikiWebs, Larry Sanger vor, stattdessen Wiki-Software zu verwenden, die die Möglichkeit bietet, Inhalte nicht nur zu lesen, sondern sie auch zu bearbeiten. Derartige Techniken waren in Datenbanksystemen bereits seit den frühen 1970er Jahren bekannt. Außerhalb der Software-Entwicklerszene wurden die Wikis allerdings erst mit Wikipedia populär. Den Begriff »Wiki« (hawaiianisch für »schnell«), der auf den hawaiianischen Schnellbus Wiki Wiki zurückgeht, prägte der Programmierer Ward Cunningham, der 1994 die erste Wiki-Website (WikiWikiWeb) entwickelt und online gestellt hatte. Sie diente dem Ideenaustausch zwischen Programmierern.
Am 15. Januar 2001 ging die Webseite wikipedia.com als Teil von nupedia.com online. Da die Wikipedia-Nutzerzahlen rasant stiegen, wurde nupedia.com bereits 2003 wieder eingestellt. Bis zu dieser Zeit waren dort lediglich 27 Artikel vollständig fertiggestellt worden. Ebenfalls 2003 wurde die gemeinnützige und spendenfinanzierte Wikimedia Foundation Inc. mit Sitz in in Saint Petersburg/Florida (ab 2007 San Francisco/California) ins Leben gerufen, die die Wikipedia betreibt.
Noch im Jahr 2001 wurden zahlreiche Sprachversionen der Wikipedia online gestellt (u.a. Chinesisch, Dänisch, Deutsch, Esperanto, Französisch, Japanisch, Katalanisch, Niederländisch, Norwegisch, Polnisch, Schwedisch, Spanisch). 2002 wechselte Wikipedia von der kommerziellen Top-Level Domain .com zur nichtkommerziellen .org. Die einzelnen Sprachversionen werden auf Subdomains veröffentlicht (z.B. de.wikipedia.org, en.wikipedia.org). Die Anzahl der Autoren, die für Wikipedia Artikel verfassen, wuchs bis 2007 stetig an, ging dann aber wieder deutlich zurück. Der überwiegende Teil der Artikel stammt inzwischen von sehr aktiven Autoren mit einem breiten Fachwissen, aber auch von akademischen Institutionen.
Jeder der möchte und sich mit der Funktionsweise des Redaktionssystems MediaWiki vertraut macht sowie die Wikipedia-Grundsätze einhält (u.a. neutraler Standpunkt, Nachprüfbarkeit, Veröffentlichung der Artikel unter einer freien Lizenz, allgemeine Benimmregeln während der Diskussionen), kann mit oder ohne Anmeldung Artikel bei Wikipedia verfassen, bereits bestehende Beiträge ergänzen oder korrigieren. Eine finanzielle Vergütung zahlt Wikimedia/Wikipedia dafür nicht, wohl aber gibt es immer wieder Autoren, die gegen Bezahlung Artikel verfassen, z.B. für Parteien, Verbände oder Unternehmen. Diese Freizügigkeit öffnet allerdings auch Manipulationen gerade bei politischen und gesellschaftspolitischen Themen Tür und Tor. Aufgrund der Vielzahl der Autoren werden Versuche Artikel aufzuschönen jedoch meist schnell bemerkt und wieder rückgängig gemacht. Über den Inhalt einzelner Artikel wird von den Autoren teilweise lange diskutiert oder auch heftig gestritten. Bisweilen ist der Umgangston in den Diskussionen sehr rau. Für die Schlichtung von Konflikten zwischen den Autoren gibt es in vielen Sprachversionen der Wikipedia gewählte Arbitration Committes, eine Art Vermittlungsausschuss oder Schiedsgericht.
Am Anfang verwendete Wikipedia die 1999 von Clifford Adams in PERL programmierte Wiki-Software UseModWiki, die die Textdateien auf einem Server ablegte und deswegen ohne Datenbank auskam. Da dieses Wiki den stetig steigenden Anforderungen schon bald nicht mehr gewachsen war, wechselte man Anfang 2002 zu einem von Magnus Manske geschriebenen PHP-/MySQL-Wiki, das in der Folgezeit von Lee Daniel Crocker überarbeitet wurde und schließlich den Namen MediaWiki erhielt. Im ersten Jahr betrieb Wikipedia drei Linux-Server. Inzwischen sind es viele hunderte, die in Rechenzentren in Ashburn/Virginia, Tampa/Florida, Carrollton/Texas, Amsterdam (Niederlande) und Singapur stehen. Betreiber dieser Rechenzentren sind u.a. die Unternehmen Equinix (Ashburn, Singapur) und Kennisnet (Amsterdam). Ab 2008 liefen die Server mit der Linux-Distribution Ubuntu, seit 2019 mit Debian, ebenfalls ein Linux-Derivat. Als Datenbank kommt inzwischen das relationale Open-Source-Datenbankmanagementsystem MariaDB zum Einsatz, das 2009 aus einer Abspaltung von MySQL entstanden ist.
Betreiber der Wikipedia ist die gemeinnützige Wikimedia Foundation Inc. mit Sitz in San Francisco/California. Ihr gehören die Markenrechte, die Software und die Server. Wikimedia finanziert sich ausschließlich durch Spenden von Privatpersonen, Stiftungen und Unternehmen. Anfang 2022 hatte Wikimedia 550 festangestellte Mitarbeiter. Neben Wikipedia betreibt Wikimedia auch die Mediendatenbank Wikimedia Commons (seit 2004; freie Bilder, Videos, Audiodateien), das Wörterbuch Wiktionary (seit 2022), Wikibooks (seit 2003; Sammlung freier Lehr-, Sach- und Fachbücher), die Zitatesammlung Wikiquote (seit 2004), das Artenverzeichnis Wikispecies (seit 2004; Archaeen, Bakterien, Einzeller, Pflanzen, Pilze, Tiere, Viren), Wikinews (seit 2004; freie neutrale Nachrichten), Wikivoyage (seit 2006; Reiseführer) und Wikiversity (seit 2006; Online-Plattform zum gemeinschaftlichen Lernen, Lehren und Forschen). Die Wikimedia Foundation besaß Ende 2021 ein Nettovermögen von rund 231 Millionen US-Dollar. Der finanzielle Gesamtaufwand für alle Aktivitäten (u.a. für Gehälter, Internet-Hosting) betrug im Geschäftsjahr 2020/2021 rund 111 Millionen US-Dollar.
Anfang 2022 gab es rund 58 Millionen Wikipedia-Artikel in annähernd 300 Sprachen. Zu gleichen Zeit lag Wikipedia auf dem vierzehnten Platz der weltweit am häufigsten besuchten Webseiten.
Solange Wikipedia existiert gibt es vielfältige Kritik an der Online-Enzyklopädie. Grundsätzlich gesehen dürfte die Wikipedia eine der größten Leistungen der Menschheitsgeschichte darstellen. Noch nie stand einer so breiten Masse soviel Wissen frei und einfach zugänglich zur Verfügung. Mussten früher bergeweise Bücher und Zeitschriften käuflich erworben oder in Bibliotheken (nicht alle waren frei zugänglich) ausgeliehen werden, genügen heute ein Endgerät, ein Internetanschluss und ein paar Klicks. Andererseits führte der freie Zugang zu einer schier unendlichen Menge an Wissen dazu, dass viele Menschen glauben, sich durch das gelegentliche Lesen in der Wikipedia auch mit sehr komplexen Themen gut auszukennen. Ärzte können ein Lied davon singen.
Ein wesentlicher Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass Wikipedia aufgrund der Art, wie die Artikel entstehen, keine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen übernehmen kann. Es fehlt die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit eines einzelnen Autors für seinen Text und damit auch die Verlässlichkeit eine herkömmlichen Enzyklopädie. Daher wird die Wikipedia gerade im Bildungs- und Wissenschaftsbereich häufig als nicht zitierfähig angesehen.
Auch schwankt die Qualität der Artikel stark; von exzellent, über amateurhaft bis fehlerhaft oder komplett falsch ist alles dabei. Der Zeitraum bis zur Entdeckung von Fehlern oder absichtlichen Manipulationen ist durch neue Qualitätskontrollen zwar verkürzt worden, aber alle die solche Artikel in dieser Zeit lesen, erhalten falsche Informationen, die sie vielleicht verinnerlichen. Immer wieder kommt es vor, dass Autoren gerade bei Themen wie Weltanschauung, Politik oder Religion bewusst oder unbewusst von einer neutralen Darstellung abweichen, um ihren Artikeln eine bestimmte Richtung zu geben.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Public Domain