Markenlexikon
Der Mechaniker und Radrennfahrer Johann Baptist Winklhofer (1859 – 1949) und der Werkzeugschlosser Richard Adolf Jaenicke (1858 – 1917) gründeten 1885 in Chemnitz die Firma Winklhofer & Jaenicke, die sich zunächst mit dem Verkauf und der Reparatur von Fahrrädern beschäftigte. Zum Jahreswechsel 1885/1886 begannen sie auf einem neuen Fabrikgelände mit der fabrikmäßigen Herstellung eigener Hochräder. Der Markenname Wanderer entstand in Anlehnung an die englische Fahrradmarke (und spätere Automarke) Rover. Als Hochräder Ende der 1880er Jahre unmodern wurden, begann Wanderer mit der Produktion von Niederrädern. Nachdem die alten Räume zu klein geworden waren, zog die Firma 1895 in ein neues Werk in Schönau bei Chemnitz um. 1895 wurde das Unternehmen mit Hilfe der Dresdner Bank in eine Aktiengesellschaft umgewandelt (Wanderer Fahrradwerke).
Da die damaligen Fräsmaschinen nicht den Anforderungen der Gründer entsprachen, begann Wanderer 1899 mit der Herstellung eigener Fräsmaschinen, die auch an andere Kunden verkauft wurden. Bald darauf kamen weitere Produkte dazu, u. a. Motorräder (1902), Schreibmaschinen (1903; Marke Continental) und Rechenmaschinen (1909).
1905 begann das Unternehmen mit der Konstruktion verschiedener Automobil-Prototypen; die Serienfertigung des Wanderer W1 5/12 PS (Puppchen) begann 1912. Der offene, zweisitzige Tourenwagen blieb in verschiedenen Varianten bis 1926 in Produktion. 1927 nahm Wanderer ein neues Autowerk im Chemnitzer Vorort Siegmar in Betrieb. 1930/1931 entwarf Ferdinand Porsches neues Konstruktionsbüro in Stuttgart für Wanderer sein erstes Automobil, den Luxus-Sportwagen Wanderer W14 12/65 PS.
1929 erwarb der böhmische Ingenieur František Janeček (1878 – 1941) die Herstellungsrechte für ein Fünfhundert-Kubikzentimeter-Motorrad von Wanderer, das zunächst als Janeček-Wanderer auf den Markt kam, dann aber in Jawa umgetauft wurde. Als Wanderer die Motorradproduktion 1930 ganz einstellte, kaufte Jawa auch einen Teil der Maschinen, die für die Herstellung der Motorräder nötig waren.
Die Weltwirtschaftskrise brachte die sächsische Autoindustrie (Audi, DKW, Horch, Wanderer) in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, sodass sich diese Unternehmen auf Druck der Landesregierung, die den guten Ruf des sächsischen Automobilbaus erhalten wollte, zur Auto-Union (Zwickau, ab 1936 Chemnitz) zusammenschlossen, was sich auch im Logo der neuen Firma, den vier Ringen, widerspiegelte. Die Wanderer Werke selbst gehörten nicht zu dem neuen Autokonzern, sie verpachtete ihr Werk in Siegmar nur an die Auto-Union.
Die Auto-Union produzierte nun Fahrzeuge der Marken Audi (Mittelklasse), DKW (Motorräder, Kleinwagen), Horch (Luxuslimousinen, Lastwage, Rennwagen) und Wanderer (gehobene Mittelklasse). Während des Zweiten Weltkriegs mussten die Werke für die Rüstung arbeiten (u. a. Panzermotoren, Kettenfahrzeuge, Militärmotorräder).
Unter der Regie der Auto-Union entstanden u. a. die Mittelklassefahrzeuge Wanderer W21 (1933 – 1936) und Wanderer W22 (1933 – 1938) – beide wurden von Porsches Konstruktionsbüro entwickelt – sowie der Wanderer W24, mit knapp 22.500 Exemplaren das meistgebaute Wanderer-Automobil. 1941 stellte die Auto-Union kriegsbedingt die Produktion der Wanderer-Personenwagen ein.
1946 wurde der Auto-Union-Konzern, dessen Hauptwerke allesamt im Osten Deutschlands lagen (Chemnitz, Zschopau, Zwickau), verstaatlicht und in der Industrieverwaltung Fahrzeugbau (IFA) mit anderen Fahrzeugherstellern zusammengefasst. In den 1950er Jahren gingen daraus Firmen wie Barkas (Framo Hainichen, Wanderer Siegmar, Motorenwerk Chemnitz), MZ (DKW-Motorradwerk Zschopau) und Sachsenring (Audi- und Horch-Werke Zwickau) hervor.
Aus dem Werkzeugmaschinenbereich von Wanderer in Siegmar entstand 1951 das Fritz-Heckert-Werk, die Büromaschinenfertigung in Schönau (Wanderer Continental) wurde vom Optima Büromaschinenwerk Erfurt (Schreibmaschinen) und Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt (vorm. Astrawerke) weitergeführt.
1948 gründeten die Winklhofer-Familie und der frühere Wanderer-Manager Hermann Gröschler die Wanderer Werke in München neu. Das Unternehmen handelte ab 1949 zunächst mit Fahrrädern und Mopeds der Firma Meister aus Bielefeld sowie Fräsmaschinen von Henschel Kassel. Bald darauf nahm Wanderer in Haar bei München die Fertigung eigener Werkzeugmaschinen wieder auf. Zwischen 1953 und 1960 erwarb Wanderer den Büromaschinenhersteller Exacta aus Köln, der 1946 von früheren Continental-Händlern gegründet worden war. Aus dem Zweiradgeschäft zog sich Wanderer 1956 zurück. Den Büromaschinenbereich verkaufte Wanderer 1968 an Heinz Nixdorf, woraus anschließend die Computerfirma Nixdorf entstand. 1981 verkaufte Wanderer die letzten eigenen Maschinenbauaktiviäten in Haar. Die 1986 entstandene HWH Gruppe (Heyligenstaedt-Wanderer-Honsberg) musste 1994 Konkurs anmelden. Die Wanderer Werke, die als reine Finanzholding für verschiedene Beteiligungen weiterexistierte, ging 2010 in die Insolvenz.
Unter der Marke Wanderer werden seit 1998 wieder Fahrräder hergestellt, zunächst von der Firma Zwei plus zwei (die Wanderer Werke fungierten nur als Lizenzgeber der Marke Wanderer) und seit 2017 von Hercules Köln. Für den Bereich Werkzeugmaschinen gehört die Marke Wanderer inzwischen der Firma Zertec aus Altötting.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Pixabay.com, Public Domain