Markenlexikon
Richard Charles Nicholas Branson (* 1950; seit 1999 Sir) versuchte sich zunächst als Herausgeber einer Schülerzeitung. 1970 gründete er zusammen mit Nikolas Mark Powell, einem Freund aus Kindertagen, in London einen kleinen Schallplattenversandhandel, den er wegen seines jungfräulichen Alters und seiner geschäftlichen Unerfahrenheit Virgin (engl. Jungfrau) nannte. 1971 eröffnete er seinen ersten Plattenladen in der Oxford Street von London. 1972 waren es schon vierzehn in ganz Großbritannien. 1971 erwarb Branson in Shipton-on-Cherwell in der Nähe von Oxford ein altes Gutshaus aus dem 16. Jahrhundert, wo er zusammen mit dem Gitarristen Tom Newman ein Tonstudio einrichtete (The Manor).
Ende 1971 machte dort Arthur Louis mit seiner Band Demoaufnahmen. Dessen Gitarrist war der damals noch vollkommen unbekannte Mike Oldfield. Er hatte in seiner privaten Wohnung mit teilweise geliehenen Instrumenten und einem Beocord-Tonbandgerät Demoaufnahmen eines längeren Instrumentalwerks angefertigt und sie mehreren großen Plattenfirmen vergeblich angeboten. Tom Newman und der Toningenieur Simon Heyworth waren von den Stücken begeistert und konnten Branson und seinen Geschäftspartner Simon Draper davon überzeugen, Oldfield Studiozeit zu gewähren – und zwar immer dann, wenn das Studio nicht anderweitig gebucht war. Die Aufnahmen fanden im Laufe des Jahres 1972 statt, häufig auch nachts, nachdem Oldfield, Newman und Heyworth aus der Kneipe zurückgekehrt waren.
Anfang 1973 nahm Branson das fertige Werk, das nun den Namen »Tubular Bells« trug, mit auf die Musikmesse MIDEM in Cannes, konnte dort aber auch keine Plattenfirma überzeugen, die Platte, die in kein gängiges Genre wie Rock, Pop oder Klassik passte, zu veröffentlichen. Kurzzeitig spielte er mit den Gedanken, sie über den Versandhandel seiner Plattenläden zu vermarkten, dann entschloss er sich jedoch dazu, zusammen mit Simon Draper und Nik Powell ein eigenes Label (Virgin Records) und einen Musikverlag (Virgin Music Publishers) zu gründen.
Im Sommer 1973 kam »Tubular Bells« erstmals in die britischen Albumcharts. Nachdem Ende 1973 ein kurzer Ausschnitt aus dem Werk in dem Horrorfilm »Der Exorzist« zu hören war, stiegen die Verkaufszahlen weltweit an. Im Herbst 1974 stand das Album für eine Woche auf Platz eins der Charts. Weitere vierundsiebzig Wochen hielt es sich in den Top 10 und 288 Wochen in den Top 100. In Australien und Kanada erreichte das Album ebenfalls Platz eins und in den USA Platz drei der Billboard-Charts.
Die außergewöhnlich erfolgreiche Platte, von der weltweit rund fünfzehn Millionen Exemplare verkauft wurden, katapultierte Mike Oldfield und Virgin Records nach ganz oben. Oldfield wurde mit seiner vielseitigen Musik zu einem der erfolgreichsten Musiker der nächsten vierzig Jahre und Virgin Records gelang der Aufstieg zu einer der großen, lange Zeit unabhängigen britischen Musikfirmen, die Musiker und Bands wie Culture Club, Cutting Crew, Enigma, Genesis, Human League, Janet Jackson, Mariah Carey, OMD, Paula Abdul, Phil Collins, Rolling Stones, Sandra, Sex Pistols, Simple Minds, Spice Girls, Tangerine Dream oder UB40 unter Vertrag hatte.
Weitere Virgin-Records-Ableger entstanden in Frankreich (1980), Deutschland (1982), Kanada (1983), den Niederlanden (1984), den USA (1986) und Japan (1987). Neben dem Hauptlabel betrieb Virgin noch Sublabel wie 10 Records, Caroline Records, Charisma Records (Übernahme 1983), Circa Records, Dindisc, Front Line Records, Siren Records, Venture Records und Virgin Classics (ab 1988). Den weltweiten Vertrieb der Virgin-Platten übernahmen größere Label wie A&M, Ariola, Arista, Atlantic, CBS (Columbia, Epic), Geffen, MCA, PolyGram (Polydor), RCA und WEA (Warner Bros.).
Schon bald nach diesem Erfolg suchte Branson nach neuen Herausforderungen. Weil er mit dem Service der etablierten Fluglinien unzufrieden war, gründete er 1984 die Fluglinie Virgin Atlantic Airways. Mit einem einzigen Flugzeug, überzeugendem Service und erschwinglichen Preisen trat er zum Kampf gegen Giganten wie British Airways an. In den 1980er Jahren entstanden noch zahlreiche weitere Virgin-Unternehmen, die in den unterschiedlichsten Branchen tätig waren (Autohandel, Bekleidungshandel, Computerspiele, Eisenbahnbetreiber, Elektronikhandel, Finanzdienstleistungen, Fitness-Studios, Getränkehersteller, Internetdienste, Hotels, Kinos, Kosmetikhandel, Limousinen-Service, Mobilfunk, Motorradtaxis, Musikgeschäfte, Radiosender, Reiseveranstalter, Verlage, Versicherungen, Weinhersteller). Genauso schnell wurden Firmen jedoch auch wieder verkauft oder geschlossen, wenn sie nicht mehr genug Gewinn abwarfen oder sich die geschäftliche Situation einer Branche änderte.
1992 verkaufte Branson Virgin Records für 560 Millionen Pfund an den Elektronik und Musikkonzern Thorn-EMI (ab 1996 EMI Group), um das weitere Wachstum seiner Fluggesellschaft finanzieren zu können. 1996 gründete er mit V2 Records ein neues Plattenlabel, das seit 2007 zur Universal Music Group gehört. Nachdem die Universal Music Group 2012 auch die EMI Group übernommen hatte, wurden EMI Records und Virgin Records zusammengeschlossen. In Großbritannien ist Virgin Records nun ein Imprint von EMI Records, in den USA entstand 2022 die Virgin Music Group. Das Manor-Studio wurde 1995 geschlossen.
Ab Mitte der 2000er Jahre beschäftigte sich Virgin vor allem mit der Entwicklung und dem Bau von Raumflugzeugen, die in naher Zukunft reguläre Raumflüge für Privatpersonen ermöglichen sollen. Maßgeblicher Entwickler des Trägerflugzeugs White Knight und des Raumflugzeugs SpaceShipOne war Burt Rutan, ein früherer Luftfahrtingenieur der U.S. Air Force, der bereits seit Anfang der 1980er Jahre zahlreiche Flugzeugprototypen gebaut hatte. Mike Melvill führte am 21. Juni 2004 mit dem SpaceShipOne den ersten privat finanzierten Weltraumflug der Geschichte durch.
Gebaut werden die Trägerflugzeuge und Raumschiffe in einer 2011 eröffneten Produktionsstätte rund siebzig Kilometer nördlich der Stadt Las Cruces/New Mexico (USA). Dort befindet sich seit 2010 auch der private Startplatz Spaceport America. Daneben existierte von 2017 bis 2023 noch ein weiteres Virgin-Raumfahrtunternehmen, das eine flugzeuggestützte Trägerrakete entwickelte (LauncherOne), die unbemannte Nutzlasten bis zu fünfhundert Kilogramm in niedrige Erdumlaufbahnen befördern sollte. Der erste erfolgreiche Start fand im Januar 2021 statt.
Am 11. Juli 2021 startete das SpaceShipTwo VSS Unity erstmals zu einem Flug mit Passagieren. An der Mission nahmen die beiden Piloten Dave Mackay und Michael Masucci sowie die Virgin-Angestellten Beth Moses, Colin Bennett, Sirisha Bandla und Richard Branson teil. Damit eröffnete Virgin das Zeitalter des Weltraumtourismus. Zwar hatte die russische Raumfahrtagentur Roskosmos ab 2001 vereinzelt zahlende Privatleute in ihren Sojus-Raumschiffen mitfliegen lassen, aber Branson und seine Mitstreiter waren die Ersten, die mit einem speziell für diesen Zweck entwickelten und gebauten Raumschiff ins All flogen.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Pixabay.com, Public Domain