Markenlexikon

Virgin

Ursprungsland: Großbritannien

Sir Richard Charles Nicholas Branson ist nicht nur einer der reichsten Unternehmer Großbritanniens, sondern auch der bekannteste und obendrein originellste. Der 1950 geborene Virgin-Gründer, der seinen Konzern jahrelang von einem Hausboot aus leitete und der selbst zu wichtigen Terminen mit Jeans, offenem Hemd und Turnschuhen erscheint, ist ein Meister der Selbstinszenierung. Mal servierte er als Stewardess verkleidet den Passagieren seiner Fluggesellschaft das Essen, mal pumpte sich der Milliardär das Geld fürs Taxi von Journalisten. Dann überquerte er den Pazifik mit einem Rennboot und flog mit einem Heißluftballon um die halbe Welt. Einmal landete er gar mit einem selbstgebauten UFO mitten in London und schlug als E.T. verkleidet einige allzu mutige Polizisten in die Flucht. Und nach dem Jungfernflug seiner Fluggesellschaft Virgin Atlantic wollte ihn die US-Einwanderungsbehörde 1984 nicht ins Land lassen. Schließlich musste der Flugkapitän den verdutzten Beamten klarmachen, dass es sich bei dem bärtigen, langhaarigen und nachlässig gekleideten Typen ohne Papiere um den Besitzer der Airline handelte.

Branson, der bereits im Alter von fünfzehn Jahren die Schule verließ, um sich als Herausgeber eines Studentenmagazins zu versuchen, gründete 1970 in London einen kleinen Schallplattenversandhandel, den er wegen seines »jungfräulichen« Alters und seiner geschäftlichen Unerfahrenheit Virgin (engl. Jungfrau) nannte. 1971 eröffnete er seinen ersten Plattenladen in der Oxford Street von London. 1972 waren es schon vierzehn in ganz Großbritannien. Zur gleichen Zeit erwarb Branson in Shipton-on-Cherwell in der Nähe Oxford ein altes Gutshaus aus dem 16. Jahrhundert, wo er ein Jahr später zusammen mit dem Gitarristen Tom Newman ein eigenes Tonstudio einrichtete (The Manor). Einer der Ersten, der in dem neuen Studio Aufnahmen machte, war der Soulsänger Arthur Lewis. In dessen Band spielte ein gewisser Mike Oldfield Bass, der sich ansonsten mit Gelegenheitsjobs als Gitarrist über Wasser hielt. In seiner Freizeit nahm er in seiner Londoner Wohnung mit seinen Gitarren, einer Elektro-Orgel, dem Staubsauger seiner Mutter und einer geliehenen Beocord-Bandmaschine von Bang & Olufsen die Demoversion eines über fünzigminütigen Instrumental-Titels auf, der damals noch keinen endgültigen Namen hatte, und schickte das Band an verschiedene Plattenfirmen.

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Das monumentale Werk, das sich jeder stilistischen Einordnung entzog, war allerdings nichts für die mainstream-geschädigten Ohren der englischen Plattenbosse. Sie ließen Oldfield wissen, dass man sowas nicht verkaufen könne. Die Manor-Produzenten Tom Newman und Simon Heyworth waren jedoch begeistert. Sie versuchten Branson, der mit der Idee spielte, eine eigene Plattenfirma zu gründen, davon zu überzeugen, Oldfield Studiozeit zur Verfügung zu stellen und die Platte zu veröffentlichen. Branson, der selbst nicht viel von Musik verstand, überließ die Entscheidung seinem Cousin Simon Draper, der als ausgesprochener Musik-Fachmann galt. Nachdem sich auch Draper begeistert gezeigt hatte, bekam Oldfield schließlich Studiozeit und die über zwanzig benötigten Instrumente, u.a. Röhrenglocken – hohle Metallstäbe, die mit einem speziellen Hammer angeschlagen werden. Die Aufnahmen dauerten von Herbst 1972 bis Frühjahr 1973. Branson gab dem Werk dann den endgültigen Titel »Tubular Bells« (Röhrenglocken). Im Januar 1973 nahm Branson das fertige Band mit auf die Musikmesse MIDEM in Cannes, doch niemand zeigte ernsthaftes Interesse. Lediglich der Chef von Mercury Records sagte zu Branson »Slap some vocals on it and I'll give you 20.000 Dollar.«

Um »Tubular Bells« veröffentlichen zu können, rief Branson 1973 gemeinsam mit Simon Draper und Nik Powell, einem Freund aus Kindertagen, die Plattenfirma Virgin Records und den Musikverlag Virgin Music ins Leben. Als die Platte im Mai 1973 unter der Nummer V2001 auf den Markt kam, schlug das Werk bei der Spät-Hippie-Generation wie eine Bombe ein. Das Album stand rekordverdächtige 264 Wochen auf Platz eins der britischen Hitparade und verkaufte sich weltweit rund sechzehn Millionen mal. Als Passagen daraus in dem Horror-Film »Der Exorzist« zu hören waren, kam die ausgekoppelte Single »Tubular Bells« auch in die US-Charts. »Tubular Bells« erwieß sich für beide Seiten als überaus erfolgreich: Mike Oldfield wurde mit seiner unglaublich vielseitigen Musik zu einem der erfolgreichten Musiker der nächsten dreißig Jahre und Virgin Records gelang der Aufstieg zu einer der großen, lange Zeit unabhängigen britischen Musikfirmen, die Stars wie Culture Club, Genesis, Human League, Mariah Carey, OMD, die Rolling Stones, Sandra, die Simple Minds, die Spice Girls oder UB40 unter Vertrag hatte. Branson scheute sich nicht einmal, die Punkband Sex Pistols, die bei EMI und A&M Records zuvor wegen ihres unmöglichen Benehmens rausgeflogen war, 1977 unter Vertrag zu nehmen.

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Schon bald nach diesem Erfolg suchte Branson nach neuen Herausforderungen. Weil er mit dem Service der etablierten Fluglinien unzufrieden war, gründete er 1984 die Fluglinie Virgin Atlantic Airways. Mit einem einzigen Flugzeug (einer von Aerolinas Argentina gekauften Boeing 747), überzeugendem Service und erschwinglichen Preisen trat er zum Kampf gegen Giganten wie British Airways an. Die versuchten Virgin mit schmutzigen Tricks auszuschalten. 1992 musste sich British-Airways-Chef Lord John King öffentlich bei Branson entschuldigen, weil er Passagiere mit Falschmeldungen, etwa über angeblich abgesagte Flüge, abgeworben hatte. Außerdem wurde British Airways dazu verdonnert, Schadensersatz an Virgin zu zahlen. Das Geld verschenkte der Milliardär, der eine eigene Karibikinsel besitzt (Necker Island auf den British Virgin Islands), an seine Mitarbeiter. Selbst seine Plattenfirma verkaufte Branson 1992 für 550 Millionen Pfund an den Musikkonzern Thorn-EMI, um die weitere Expansion seiner Fluggesellschaft finanzieren zu können (seit 2012 gehören EMI Records und Virgin Records zur Universal Music Group). Die Virgin Atlantic Limited, die Muttergesellschaft von Virgin Atlantic Airways und Virgin Holidays, gehört heute zu 51 Prozent der Virgin Group und zu 49 Prozent der US-Fluggesellschaft Delta Air Lines (von 1999 bis 2013 war Singapore Airlines Miteigentümer).

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In den 1980er Jahren entstanden noch zahlreiche weitere Firmen, u.a. Virgin Games, Virgin Vision, The Music Channel, Virgin Holiday, Virgin Airship and Balloon, Virgin MegaStores, Virgin Hotels und Virgin Broadcasting. 1986 ging die Virgin Group an die Londoner Börse, doch bereits 1987 kauften Branson und das Virgin-Management die Aktien wieder zurück. In den 1990er und 2000er Jahren gründete Branson weiterhin Firmen wie am Fließband, meist zusammen mit anderen Unternehmen oder Partnern, u.a. Virgin Publishing, Virgin Radio, Virgin Trading, Virgin Cola, Virgin Direct Personal Financial Services, V2 Music, Virgin.Net, Virgin Trains, Virgin Cosmetics, Virgin Mobile, V.Shop, Virgin Cars, Virgin Energy, Virgin Student, Virgin Wines, Virgin Travelstore, Virgin Money, Virgin Experience, Virgin Media, Virgin Credit Card und Virgin Pulse. Genauso schnell wurden Firmen jedoch auch wieder verkauft oder geschlossen, wenn sie nicht mehr genug Gewinn abwarfen oder sich die geschäftliche Situation einer Branche änderte. So erging es beispielsweise den ab 1988 in vielen Ländern eröffneten Virgin-Megastore-Musikshops, die lange Zeit zu den umsatzstärksten Unternehmen der Virgin Group gehörten, dann aber durch das Internet unnötig wurden.

Mit dem Ziel, in naher Zukunft Raumflüge für Privatpersonen anzubieten, gründete Branson gemeinsam mit dem US-Luft- und Raumfahrtingenieur Burt Rutan die Firmen Virgin Galactic (2004) und The Spaceship Company (2005). Rutan hatte zu dieser Zeit bereits mit finanzieller Hilfe des Microsoft-Mitbegründers Paul Allen das Doppelrumpf-Trägerflugzeug White Knight entwickelt, das das eigentliche Raumflugzeug SpaceShipOne in eine Höhe von rund fünfzehn Kilometern brachte, wo der Pilot einen Raketenmotor zündete, der SpaceShipOne schließlich bis an die offizielle Grenze des Weltraums beförderte. Mike Melvill führte am 21. Juni 2004 den ersten privat finanzierten Weltraumflug der Geschichte durch. SpaceShipOne ist heute im National Air and Space Museum in Washington/D.C. ausgestellt.

Auf Basis von SpaceShipOne entwickelte The Spaceship Company ein weiteres Raumflugzeug (SpaceShipTwo) sowie das Trägerflugzeug White Knight Two (VMS [Virgin Mother Ship] Eve). Das erste Exemplar, das zwei Piloten und sechs Passagieren Platz bietet, verließ die Werkhalle im Dezember 2009 und wurde auf den Namen VSS Enterprise (VSS = Virgin Space Ship) getauft. Im Oktober 2010 eröffnete die New Mexico Spaceport Authority rund siebzig Kilometer nördlich der Stadt Las Cruces/New Mexico (USA) den privaten Startplatz Spaceport America, wo die Starts fortan stattfanden. Dort wurde bis September 2011 auch eine Produktionsstätte für die Trägerflugzeuge und Raumschiffe errichtet. Die VSS Enterprise führte ihre ersten erfolgreichen Flüge im Oktober 2010 durch. 2012 erwarb Virgin Galactic alle Anteile an der Spaceship Company, an der zuvor Rutans Firma Scaled Composites (ein Hersteller von Flugzeugprototypen) beteiligt gewesen war. Im Oktober 2014 stürzte SpaceShipTwo während eines Testflugs über der Mojave-Wüste ab, wobei der Co-Pilot ums Leben kam, während sich der Pilot mit dem Schleudersitz retten konnte.

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2016 nahm Virgin Galactic nach vierjähriger Bauzeit ein neues SpaceShipTwo in Betrieb (VSS Unity), das in den nächsten Jahren ausgiebig getestet wurde. Im Mai 2021 stieg VSS Unity bis in ein Höhe von 89 Kilometer auf. Die Höhe von fünfzig Meilen (rund achtzig Kilometer) über dem Meeresspiegel gilt in den USA als Grenze zum Weltraum (international sieht man die Grenze bei einhundert Kilometern). Am 11.07.2021 startete VSS Unity erstmals zu einem Flug mit Passagieren. An der Mission nahmen die beiden Piloten Dave Mackay und Michael Masucci sowie die Virgin-Galactic-Angestellten Beth Moses, Colin Bennett, Sirisha Bandla und Richard Branson teil. Damit eröffnete Virgin Galactic das Zeitalter des Weltraum-Tourismus. Zwar hatte die russische Raumfahrtagentur Roskosmos ab 2001 vereinzelt gutzahlende Privatleute in ihren Sojus-Raumschiffen mitfliegen lassen, aber Branson und seine Mitstreiter waren die Ersten, die mit einem speziell für diesen Zweck entwickelten und gebauten Raumschiff ins All flogen.

Im Frühjahr 2017 gründete die Virgin Group mit Virgin Orbit (Long Beach/California) ein weiteres Raumfahrtunternehmen. Die bereits 2012 öffentlich vorgestellte flugzeuggestützte Trägerrakete LauncherOne soll unbemannte Nutzlasten bis zu fünfhundert Kilogramm in niedrige Erdumlaufbahnen befördern. Dazu wird sie von einer umgebauten Boeing 747-400, die zuvor bei Virgin Atlantic im Einsatz gewesen war, in einer Höhe von rund zehntausend Metern abgeworfen. Der erste erfolgreiche Start fand im Januar 2021 statt. Als Startplatz dient der Mojave Air and Space Port in der kalifornischen Mojave-Wüste. Infolge eines gescheiterten Raketenstarts im Januar 2023 musste die Firma ihren Geschäftsbetrieb aussetzen und im April 2023 Gläubigerschutz nach Kapitel 11 des US-Insolvenzrechts beantragen.

Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Pixabay.com, Public Domain