Markenlexikon
Der Londoner Geschäftsmann Marcus Samuel Jr. (1853 – 1927) erbte 1870 von seinem Vater ein kleines Muschel-Handelsgeschäft, das seit 1833 bestand. Mit einigen schrottreifen Dampfschiffen pendelte er zwischen Europa und Ostindien hin und her. Auf dem Rückweg waren seine Seeveteranen zwar immer ausgebucht, doch für den Hinweg ließ sich in Europa kaum Fracht auftreiben. Auf der ständigen Suche nach Schiffsladungen stieß er auf die Ölfelder von Baku, die den schwedischen Nobel-Brüdern sowie den Rothschild-Banken gehörten. Das dort geförderte Rohöl wurde über Pipelines in den Schwarzmeerhafen Batumi gepumpt. Allerdings fanden sich nur wenige Schiffseigner und Besatzungen, die das hohe Risiko des Öltransports auf sich nehmen wollten. Ständig explodierten Tankschiffe, weil die hölzernen Ölfässer während der langen Fahrten undicht geworden waren.
Samuel Jr. kam auf die Idee, anstatt Holzfässer sichere Kanister aus Blech zu benutzen, die er eigens dafür anfertigen ließ. Mit seinen Schiffen transportierte er nun Öl vom Schwarzen Meer über den Suezkanal nach Indochina und Japan. In den frühen 1890er Jahren ließ er eine ganze Flotte moderner Tankschiffe bauen, die aber auch Reis, Tee, Tabak, Gewürze oder Muscheln laden konnten. Auf den Schornsteinen seiner Schiffe prangte als Erinnerung an die Anfänge des Unternehmens eine Muschel (engl. Shell) als Logo.
1897 gründeten die Brüder Marcus und Sam Samuel (1855 – 1934) mit finanzieller Hilfe der englischen und französischen Rothschild-Banken in London The »Shell« Transport and Trading Company, die damals die größte Tankerflotte der Welt besaß. Nebenbei war der zum Lord Bearstaed erhobene Marcus Samuel Jr. auch eine Zeitlang Bürgermeister von London.
Zur Ölgesellschaft wurde Shell 1907 durch den Zusammenschluss mit der 1890 von Aeilko Jans Zijlker (1840 – 1890) gegründeten niederländischen Royal Dutch Petroleum Company (Koninklijke Nederlandsche Maatschappij tot Exploitatie van Petroleumbronnen in Nederlandsche-Indie). Der Tabakunternehmer Zijlker hatte 1880 auf seinen Tabakfeldern auf Sumatra kleine Ölpfützen entdeckt und bald darauf vom niederländschen König Wilhelm III. die Konzession erhalten, in Niederländisch-Indien (heute Indonesien) gezielt nach Öl zu suchen. 1892 begann Royal Dutch mit der Ölförderung. Royal Dutch Petroleum war an dem neuen Unternehmen Royal Dutch/Shell mit 60 Prozent beteiligt, Shell mit 40 Prozent.
Initiator der Fusion war der Royal-Dutch-Chef Heinrich (Henry) Wilhelm August Deterding (1866 – 1939), der eine europäische Konkurrenz zu Rockefellers Standard Oil Company (Esso) aufbauen wollte. Der neue Konzern konnte sich nicht nur der wohlwollenden Unterstützung der beteiligten Rothschild-Banken sicher sein, sondern vor allem der des englischen und niederländischen Königshauses, was fast einer Lizenz zum Gelddrucken gleichkam. Immerhin besaßen Großbritannien und die Niederlande zusammen das größte Kolonialreich der Welt. Unter der Leitung Deterdings, den man später »Napoleon des Öls« nannte, wurde aus der Royal Dutch/Shell Group ein ebenbürtiger Gegner der Standard Oil Company.
Zunächst besaß Royal Dutch/Shell nur die Royal-Dutch-Ölquellen auf Sumatra und Beteiligungen an den russischen Ölfeldern in Baku, die jedoch nach der Oktoberrevolution (1917) verloren gingen. Später erwarb der Konzern auch Ölfelder und Bohr-Konzessionen in Rumänien (1906), Ägypten (1911), Mesopotamien (1912), Kalifornien (1913), Oklahoma (1913), Venezuela (1913), Sarawak/Malaya (1913), Mexiko (1913), Trinidad (1914), British Borneo/Brunei (1929), Oman (1937), Ecuador (1937), Iran (1954), Algerien (1956) und im Niger-Delta von Nigeria (1956). Ab 1949 wurde der Markenname Shell für alle Aktivitäten der Royal Dutch/Shell Group verwendet.
Beide Unternehmen, Shell (London) und Royal Dutch (Den Haag), waren lange Zeit selbstständige Aktiengesellschaften, die getrennt an der Börse gehandelt wurden. Erst 2005 schlossen sie sich zur Holdinggesellschaft Royal Dutch Shell (Sitz: Den Haag, eingetragen im Handelsregister London) zusammen. 2016 übernahm Royal Dutch Shell den britischen Gasproduzenten BG (British Gas). 2022 wurde der Hauptsitz von Den Haag nach London verlegt. Dadurch verlor man auch das Privileg, sich Royal Dutch (königlich-niederländisch) nennen zu dürfen, was zur Umbenennung des Konzerns in Shell führte.
Die Upstream Aktivitäten von Shell umfassen die Exploration und Förderung von Erdöl sowie Erdgas in vielen Teilen der Welt. Der Konzern betreibt zahlreiche Raffinerien (Produktion von höherwertigen Ölprodukten wie Benzin, Diesel, Schmieröl, Heizöl, Kerosin, Flüssiggas oder Bitumen), Anlagen zu Verflüssigung von Erdgas und zehntausende Tankstellen (Downstream Aktivitäten). Daneben investiert Shell seit den frühen 2000 Jahren auch in erneuerbare Energien (Photovoltaik, Windkraft, Wasserstoff, Entwicklung von synthetischen Kraftstoffen aus Biomasse).
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Pixabay.com, Public Domain