Markenlexikon

Schiesser

Ursprungsland: Deutschland

Jacques Schiesser (1848 – 1913), der zuvor eine Weberei im Thurgau betrieben hatte, gründete 1875 zusammen mit seiner Frau Malwine eine Trikotagenfabrik in Radolfzell am Bodensee. Als Produktionsstätte diente zunächst der Tanzsaal eines Gasthauses, wo neun Rundwirkstühle zur Produktion von Unterwäsche aufgestellt wurden. Ein Jahr später zog die Firma in ein größeres Gebäude um. Die neuen gesundheitsfördernden Wäschestücke, wie sie genannt wurden, kamen bei den Kunden gut an und fanden reißenden Absatz. Damals war gerade eine Diskussion darüber entbrannt, ob die bis dahin üblichen langen Hemden und Röcke hygienisch noch zeitgemäß waren. Denn darunter trugen Frauen und Männer nichts, zumindest war das bei den Angehörigen der einfachen Bevölkerung so Gang und Gäbe. Und sie wurden auch eher selten gewaschen oder gewechselt. Mikrobiologen und Hygieniker warnten dann auch vor Krankheitserregern, die sich so hervorragend verbereiten konnten.

Weitere Produktionsstätten entstanden 1890 in Stockach, 1894 in Bukarest und 1896 in Engen. Um 1900 beschäftigte das Unternehmen rund 1000 Mitarbeiter, zum Teil Gastarbeiter aus Italien, und exportierte den Großteil seiner Unterwäsche in zahlreiche Länder der Welt. Nach dem Tod des Gründers wurde die Firma von seiner Witwe, seinem Schwiegersohn Wilhelm Finckh und seinem Neffen Jean Schiesser weitergeführt. 1916 wandelten sie das Familienunternehmen in eine Aktiengesellschaft um.

Ende 1923 präsentierte Schiesser der Öffentlichkeit erstmals feingestrickte, elastische Unterhosen, die nach dem Vorbild von Sockenbündchen gefertigt wurden. Die auf Rundstrickmaschinen hergestellte Rechts/Links-Maschenware aus Baumwollgarn war weich, dehnbar, atmungsaktiv, saugfähig und pflegeleicht. Unter dem Namen Feinripp trat dieses Gewebe von Radolfszell aus seinen Siegeszug um die Welt an. 1951 kam mit dem Doppelripp noch eine weitere Variante hinzu.

Während der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise ging es mit der Schiesser AG bergab. Die Rohstoffbeschaffung war schwierig, die Exportmärkte brachen weg, Werke mussten geschlossen werden, die Belegschaft schrumpfte enorm und Schiesser war wie viele andere deutsche Unternehmen gezwungen, für den Kriegsbedarf zu produzieren. Anfang der 1930er ging die Firma fast bankrott. Der Schweizer Textilhändler Jakob Heusser-Staub (1862 – 1941), der mit Jaques und Malwine Schiesser befreundet war, rettete das Unternehmen schließlich vor dem Untergang. Heusser-Staub wurde dadurch zum Mehrheitseigentümer der Schiesser AG, sein 21-jährige Neffe Walter Schellenberg übernahm 1936 die Geschäftsführung. Nach dem Tod von Heusser-Staub ging die Schiesser AG in den Besitz der Holdinggesellschaft Hesta über, die wiederum zur Heusser-Staub AG (später Hesta AG) gehörte.

In den 1950er Jahren besserte sich die wirtschaftliche Lage wieder. Ab 1959 eröffnete Schiesser zahlreiche neue Werke in Deutschland (Dettingen, Donndorf/Oberfranken, Geislingen, Hohentengen, Mühlhofen, Steißlingen, Tengen, Waldshut), Griechenland, Irland, Österreich und der Schweiz. Ende der 1960er Jahre beschäftigte Schiesser in seinen Werken über 4000 Mitarbeiter. Durch die Übernahme der Firmen Standop und Hudson-Textil-Werke produzierte das Unternehmen ab 1971 neben Trikotagen auch andere Textilien. Nach der Übernahme des französischen Unterwäscheherstellers Eminence aus Aimargues (1991) stieg die Schiesser Eminence Holding AG (Stein am Rhein/Schweiz) zum umsatzstärktsen europäischen Trikotagenhersteller auf.

Die Krise auf dem Textilmarkt ab Anfang der 1990er Jahre machte jedoch auch vor Schiesser nicht halt. Das Unternehmen verlagerte seine Produktion nach Mittel- und Osteuropa (Bulgarien, Griechenland, Slowakei, Tschechien) und schloss nach und nach seine deutschen Standorte, zuletzt 2002 das Stammwerk in Radolfzell. Die Zentrale in Radolfzell beschäftigte sich nun nur noch mit der Produktentwicklung, dem Vertrieb und dem Marketing. Eminence wurde 1999 an einen Finanzinvestor verkauft.

Der Versuch in den 2000er Jahren mit Hilfe von Lizenzfertigungen (Unterwäsche für Hugo Boss, Levi’s, Mexx, Puma, Ralph Lauren, Seidensticker, Strellson, Tommy Hilfiger) Umsatzrückgänge im Fachhandel auszugleichen und Wachstum zu generieren, führte jedoch zu einer schweren finanziellen Schieflage. Schuld daran waren vor allem unrentable Lizenzverträge und die durch das Lizenzgeschäft gestiegene Komplexität der Betriebsorganisation. Die EDV konnte das vergrößerte Produktsortiment nicht bewältigen, was zu dazu führte, dass die Produktion und der Vertrieb stark beeinträchtigt wurden. Zeitweise war das Unternehmen nicht lieferfähig, was zu Stornierungen und Extra-Rabatten wegen verspäteter Lieferungen führte. Große Teile der bereits produzierten Waren mussten mit Abschlägen bis zu 70 Prozent verrammscht werden.

Die beginnende Finanzkrise und die Weigerung des Schiesser-Hauptaktionärs Hesta AG (über die Schiesser Group AG Küsnacht/Schweiz) weitere Verluste zu finanzieren, führten 2009 zur Insolvenz der Schiesser AG. Hesta hatte in den 2000er Jahren bereits 50 Millionen Euro Schiesser-Verluste übernommen. Nachdem Schiesser durch zahlreiche Sanierungsmaßnahmen (u.a. Arbeitszeiterhöhung ohne Lohnausgleich, Aufbau des Internethandels, Ausweitung der Werksverkäufe, Aufgabe der unrentablen Lizenzfertigung, Kündigung der betrieblichen Altersversorgung, Personalabbau, Werksschließungen) wieder schwarze Zahlen schrieb, wurde das Insolvenzverfahren 2010 beendet. Ein geplanter Börsengang kam aufgrund der sich verschärfenden Weltfinanzkrise nicht zustande. Stattdessen wurde die Schiesser AG 2012 von dem israelischen Textilunternehmen Delta Galil Industries Ltd. aus Tel Aviv übernommen. Durch den Kaufpreis in Höhe von 68 Millionen Euro konnten alle Forderungen der Insolvenzgläubiger beglichen werden.

Die Schiesser GmbH Radolfzell (seit 2021 in dieser Gesellschaftsform) produziert in Griechenland, der Slowakei und Tschechien Unter-, Nacht- und Freizeitbekleidung für Damen, Herren und Kinder, außerdem Bademoden, Sportbekleidung und Funktionswäsche.

Text: Toralf Czartowski