Markenlexikon
Die Brüder Christian und Georg Thiel gründeten 1861 oder 1862 eine Metallwarenfabrik in Ruhla/Thüringen, die zunächst kleinere Metallteile wie Pfeifenbeschläge, Stoßkappen für Schuhe und Messingabsatzschoner fertigte. Ab 1874 produzierte die Firma ein Bierzählwerk für Gastwirte. Kurz darauf folgte eine Kinderspieluhr. 1891 stellte die Firma Gebrüder Thiel ihre erste Taschenuhr vor, die sich aufgrund ihres niedrigen Preise im In- und Ausland sehr gut verkaufte. Von da an waren Uhren das Hauptprodukt von Thiel. Kurz darauf entstand in Seebach eine zweite Produktionsstätte, die zunächst Spezialmaschinen und -werkzeug für die Uhrenfertigung herstellte und ab 1932 auch Uhren. Während der beiden Weltkriege war Thiel einer der Hauptlieferanten von Zeitzündern für Granaten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Unternehmen enteignet und der staatlichen Sowjetischen Aktiengesellschaft Awtowelo (AWO) untergeordnet, zu der auch das BMW-/EMW-Werk Eisenach, das Simson-Werk Suhl, das Rheinmetall-Werk in Sömmerda, das Elite-Diamant-Fahrradwerke in Siegmar-Schönau/Chemnitz und das Fichtel & Sachs-Werk in Reichenbach/Vogtland gehörten. 1952 gab die Sowjetunion die meisten Betriebe wieder an die DDR zurück. Daraufhin wurde die Uhren- und Maschinenfabrik Thiel erst in Uhren- und Maschinenfabrik Ruhla (UMF) umbenannt und dann 1953 in Klement Gottwald Uhren- und Maschinenfabrik Ruhla (der Kommunist und Stalinist Gottwald war von 1946 bis 1948 Ministerpräsident und von 1948 bis 1953 Staatspräsident der Tschechoslowakei).
1967 wurden die drei führenden Uhrenhersteller der DDR (Uhren und Maschinenfabrik Ruhla, Glashütter Uhrenbetriebe, Feinmechanik Weimar) zum Uhrenkombinat Ruhla (ab 1971 Uhren- und Maschinenkombinat Ruhla) zusammengeschlossen. Bereits 1978 löste man das Uhren- und Maschinenkombinat Ruhla, zu den nun auch ein Plastikverarbeitungswerk in Eisenach und Feinwerktechnik Dresden gehörten, wieder auf und integrierte es in das Kombinat Mikroelektronik Karl Marx Erfurt.
In Ruhla wurden alle Arten von Uhren hergestellt (Armbanduhren, Blindenuhren, Großuhren, Schachuhren, Stoppuhren, Taschenuhren, Wanduhren, Wecker, Zeitmessgeräte) mit unterschiedlichen Uhrwerken (Analoguhren mit Handaufzugswerk, elektromechanische Uhren, analoge Quarzuhren, LCD-Quarzuhren). In den 1980er Jahren war Ruhla einer der größten Uhrenhersteller der Welt mit zeitweise über zehntausend Beschäftigten.
Mit der Ruhla Electric stieg die Firma 1963 in die Produktion von elektromechanischen Uhren ein. Das Kaliber 24, ein einfaches Handaufzugswerk, das zwischen 1963 und 1990 in verschiedenen Uhrenmodellen zum Einsatz kam, wurde mit über 130 Millionen Exemplaren das am meisten produzierte Ruhla-Uhrwerk. Mit dem Modell 24-34, bei dem statt Zeiger zwei Ziffernscheiben rotierten, begann in der DDR 1973 das digitale Zeitalter. 1978 kam die erste Ruhla-Quarzuhr mit LCD-Anzeige auf den DDR-Markt (Kaliber 27-01), wobei das komplette Uhrwerk noch aus Japan stammte. In den 1980er Jahren wurden die LCD-Quarzuhren unter der Ruhla-Submarke Eurochron verkauft. In Ruhla entstanden auch zahlreiche Modelle für die Quelle-Versandhaus-Marke Meister-Anker, die zeitweise auch im DDR-Einzelhandel erhältlich waren.
1990 wurde das Kombinat Mikroelektronik von der Treuhandanstalt privatisiert. Aus dem Kombinatsbetrieb Uhrenwerk Ruhla entstanden in der Folgezeit über vierzig Privatunternehmen, u. a. Uhrenwerke Ruhla (ging 1992 in Insolvenz), Gardé Uhren und Feinmechanik Ruhla (benannt nach der Ruhla-Schachuhr Garde, die 1960 zur Schacholympiade Leipzig eingeführt worden war), Eurochron Seebach (Uhren), Deckel-Maho Seebach (Werkzeugmaschinen), Ruhlamat Marksuhl (Sondermaschinenbau), SMR Sondermaschinen und Technologie-Union Seebach.
Gardé, der einzige in Ruhla verbliebene Uhrenhersteller, musste 2019 Insolvenz anmelden, wurde aber dann von dem Uhrenhersteller PointTec aus Ismaning (Marken: Bauhaus, Iron Annie, Junkers, Maximilian München, Rosenthal, Zeppelin) übernommen, der zuvor bei Gardé Uhren produzieren lassen hatte.
Text: Toralf Czartowski