Markenlexikon
Ende der 1920er Jahre begann die Ära der Tonfilme. Den Anfang machte Warner Bros. 1927 mit dem Film »The Jazzsinger«. Die Technik stammte von der AT&T-Tochter Western Electric. Die Warner-Brüder, die von Western Electric die Alleinnutzungsrechte erworben hatten, nannten dieses Nadeltonverfahren, bei dem eine Grammophonplatte synchron zum Film lief, Vitaphone. Es war keineswegs die modernste Technik, denn bereits 1922 hatten der polnische Ingenieur Józef Tykociński-Tykociner und die deutschen Ingenieure Hans Vogt, Joseph Masolle und Joseph Benedict unabhängig voneinander das sogenannte Lichttonverfahren entwickelt (das deutsche Verfahren hieß Tri-Ergon – »das Werk der Drei«). Auch Lee de Forrest, der 1906 die Triode (3-Elektronen-Röhre) entwickelt hatte, sowie sein Schüler Theodore Willard Case, werden als Erfinder genannt. Beim Lichttonverfahren wird die Tonspur zwischen den Einzelbildern und den Perforationslöchern des Films aufbelichtet. Bei der Wiedergabe leuchtet eine Lampe auf den Tonstreifen, der je nach Amplitude und Frequenz des aufgezeichneten Tonsignals unterschiedlich viel Licht durchlässt. Eine Fotodiode, die sich hinter dem Film befindet, wandelt das Licht in eine Wechselspannung um, die anschließend verstärkt und mittels Lautsprechern hörbar gemacht wird. Die deutsche Filmindustrie hatte jedoch kein Interesse gezeigt, vermutlich weil das Lichttonverfahren noch nicht ausgereift war. William Fox (Fox Film Corporation) erwarb 1927 die Tri-Ergon-Patente für den nordamerikanischen Markt und entwickelte daraus das Movietone-Verfahren, das bis 1931 in Verwendung blieb. Das Lichttonverfahren setzte sich gegenüber dem Nadeltonverfahren bald durch und wird neben dem Magnettonverfahren noch heute angewandt.
Bald konkurierten in den USA zwei Lichttonverfahren miteinander, Westrex von Western Electric und Photophone von RCA (Radio Corporation of America), das die RCA-Mutter General Electric entwickelt hatte. Um das Photophone-System besser vermarkten zu können, kaufte sich RCA-Chef David Sarnoff einen eigenen Filmkonzern zusammen. 1928 übernahm RCA die Theater- und Kinokette Keith-Albee-Orpheum (KAO; geht auf die Theaterbetreiber Benjamin Franklin Keith, Edward Franklin Albee, Gustav Walter/Orpheum und Martin Beck/Orpheum zurück) und die Filmproduktions- und Verleihfirma Film Booking Offices of America Inc. (FBO; gegründet 1918 als Robertson-Cole; ab 1922 FBO), die damals Joseph P. Kennedy, dem Vater des späteren US-Präsidenten John F. Kennedy, gehörte. FBO besaß seit 1920 auch ein eigenes Studio in Hollywood. Das neue Unternehmen bekam den Namen RKO (Radio Keith Orpheum), das Produktions- und Verleihgeschäft firmierte als Radio Pictures (ab 1932 RKO Radio Pictures Inc). Der RKO-Hauptsitz befand sich in New York City, im Hochhaus über der Radio City Music Hall, die wiederum RCA gehörte.
RCA konnte für sein Tonsystem neben RKO auch Walt Disney Productions, Warner Bros. – First National, Republic Pictures und Pathé USA gewinnen, Western Electric belieferte u.a. Columbia Pictures, Fox Film (später Twentieth Century-Fox), Metro-Goldwyn-Mayer, Paramount Pictures, Universal Pictures und die britische Rank Organisation.
1930/1931 erwarb RKO die frühere US-Niederlassung des französischen Pathé-Konzerns (American Pathé), die Joseph Kennedy 1927 gekauft hatte. Durch die Pathé-Übernahme kam RKO in den Besitz eines großen Studiogeländes in Culver City, südlich von Hollywood und Beverly Hills, dort wo auch Metro-Goldwyn-Mayer ansässig war. Dieses Studio hatte zuvor den Regisseuren Thomas H. Ince (1918 – 1925) und Cecil B. deMille (1925 – 1928) gehört. Später produzierte David O. Selznick, der von 1931 bis 1935 RKO-Produktionschef gewesen war, hier mit seiner eigenen Firma Selznick International Pictures den berühmten Film »Vom Winde verweht«.
Berühmtheit erlangte RKO u.a. mit Filmen wie »King Kong und die weiße Frau« (1933), »Becky Sharp« (1935; der erste Drei-Farben-Technicolor-Film), John Fords »Der Verräter« (1935), Der »Glöckner von Notre Dame (1939), »Goldenes Gift« (1942), »Die besten Jahre unseres Lebens« (1946; Verleih für Sam Goldwyn), Alfred Hitchcocks Thriller »Verdacht« (1941) und »Berüchtigt« (1946), Orson Welles »Citizen Kane« und »Der Glanz des Hauses Amberson« (1942), Jacques Tourneurs Horrorfilme »Katzenmenschen« (1942) und »Ich folgte einem Zombie« (1943), John Fords »Befehl des Gewissens« (1947) und »Bis zum letzten Mann« (1947), »Eiskalte Rache« (1952), »Engel der Gejagten« (1952), »Der Eroberer« (1956), »Jet Pilot« (1957), »Von der Erde zum Mond« (1958) sowie mehrere sehr erfolgreiche Filmmusicals mit Fred Astaire und Ginger Rogers (u.a. 1934 »Tanz mit mir! – The Gay Divorcee«, 1935 »Top Hat – Ich tanz mich in dein Herz hinein«, 1936 Swing Time«, 1937 »Tanz mit mir – Shall We Dance«). Daneben war RKO von 1935 bis 1953 für den Verleih der Disney-Filme zuständig.
Der RCA-Konzern verkaufte seine RKO-Anteile zwischen 1935 und 1942 an die Atlas Corporation (Convair, Northeast Airlines, Bonwit Teller), eine Holdinggesellschaft des Investors Floyd Odlum, die sie 1948 an den exzentrischen Unternehmer (Hughes Aircraft, Hughes Tool), Luftfahrtpionier und Filmproduzenten Howard Robart Hughes (1905 – 1976) weiterreichte. Hughes hatte u.a. die erfolgreichen Filme »Scarface« (1932) und »The Outlaw« (1943) produziert.
Im Zuge der Antitrustkampagne gegen die Konzentration der Hollywood-Industrie wurde Ende der 1930er Jahre vom Obersten Gerichtshof der USA ein Musterprozess gegen Paramount Pictures angestrengt, der die Trennung der Produktions- und Kinoaktivitäten zum Ziel hatte. 1949 kam es zu einem Urteil: Paramount musste in eine Produktions- und Verleihfirma und eine Kinokette aufgeteilt werden. Infolge dieses Prozesses sahen sich auch andere Filmstudios gezwungen, ihre Kinoketten abzustoßen. RKO teilte sich 1950 in die RKO Pictures Corporation (Filmproduktion, Filmverleih) und die RKO Theatres Corporation (Kinos) auf.
Die RKO Theatres Corporation mit 124 Kinos wurde 1953 an Albert List verkauft (List Industries); 1959 kam List Industries unter die Kontrolle der Glen Alden Corporation, die 1967 auch die Stanley-Warner-Kinos (162 Kinos), die ehemalige Kinokette von Warner Bros., erwarb (RKO–Stanley Warner Theatres) und 1970 von Pacific Theatres/Cinerama, dem Entwickler des gleichnamigen Breitwand-Filmformats, übernommen wurde.
Wie auch die anderen Hollywood-Studios rutschte RKO in den 1950er Jahren immer mehr in die roten Zahlen. 1952 beendete Sam Goldwyn sein Vertriebsabkommen mit RKO, ein Jahr später folgte Disney. In dieser Zeit produzierte RKO immer weniger Filme, die auch qualitativ nicht mehr an frühere Maßstäbe heranreichten.
1952 veräußerte Hughes seine RKO-Anteile an ein Syndikat aus Chicago, das aus mehreren Geschäftsleuten aus unterschiedlichen Branchen bestand (Ralph Stolkin, Abraham Koolish, Raymond Ryan, Edward Burke, Sherill Corwin). Nach dem das Wall Street Journal herausgefunden hatte, dass Stolkin, Koolish und Ryan eine kriminelle Vergangenheit hatten und sogar Verbindungen zum organisierten Verbrechen bestanden (u.a. zu Cosa-Nostra-Boss Frank Costello), gaben sie ihre Aktien wieder an Hughes zurück, um größeres Aufsehen zu vermeiden. 1955 fand Hughes in der General Tire and Rubber Company, einem Reifenhersteller, dem seit den frühen 1940er Jahren auch mehrere Radio- und TV-Sender in den USA gehörten (General Teleradio), einen neuen Käufer. General Teleradio Pictures (so der Firmenname nach der Übernahme) war vor allem an der RKO-Filmbibliothek (742 Filme) für seine TV-Sender interessiert.
Die Kinorechte an den RKO-Filmen wurden 1955 an die C&C Television Corporation, eine Tochter des irischen Spirituosenherstellers Cantrell & Cochrane (C&C), verkauft, das Studio in Culver City erwarb 1957 die Produktionsfirma Desilu Productions, die von Desi Arnaz und der früheren RKO-Vertragsschauspielern Lucille Ball gegründet worden war. Desilu produzierte später erfolgreiche TV-Serien wie »Raumschiff Enterprise«, »Mannix« und »Mission: Impossible«. Kurz darauf endete auch die Produktions- und Verleihtätigkeit von RKO; die letzten Filmprojekte wurden von Universal-International und Columbia Pictures realisiert. 1959 kam es zur Umbenennung des Unternehmens in RKO General Inc., das sich nun nur noch mit dem Betrieb von Rundfunk- und Fernsehsendern beschäftigte. Unabhängig von den Verwertungsrechten der RKO-Filmbiliothek behielt RKO General die Rechte an den grundsätzlichen Filmideen und Drehbüchern, womit man sich für spätere Remakes alter Filme eine Tür offen halten wollte.
1965 wurde durch eine Untersuchung der Federal Communications Commission (FCC) bekannt, dass General Tire seine unabhängigen Reifenvertretungen dazu drängte, Werbezeit bei den RKO-Fernsehsendern zu buchen. Die FCC verzichtete zwar vorerst darauf, dem Konzern die Sendelizenzen für terrestrische Fernsehsender zu entziehen, die Ermittlungen gingen in diesem Fall jedoch noch jahrelang weiter.
Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung von RKO General führten 1976 zu einer umfangreichen Geschäftsprüfung durch die US-Börsenaufsicht SEC (United States Securities and Exchange Commission), die wiederum neue Straftatbestände zu Tage förderten (Bestechung, Bilanzfälschung, Führung von schwarzen Kassen, Zurückhaltung von belastendem Material). 1980 entschied die FCC das RKO General als Eigentümer von Radio- und TV-Stationen untragbar geworden war und entzog dem Unternehmen daraufhin die Sendelizenz. Der Oberste Gerichtshof der USA bestätigte dieses Urteil letztinstanzlich 1982. Dennoch zog es sich noch eine Weile hin, bevor sich RKO General aus dem Rundfunksektor zurückzog. Die einzelnen Sender verkaufte die neue 1984 entstandene Holdinggesellschaft GenCorp Inc. (Aerojet General, Frontier Airlines, General Tire, RKO General) bis 1991 nach und nach an verschiedene Unternehmen. RKO General exisitiert jedoch als Tochtergesellschaft der Aerojet Rocketdyne Holdings (ab 2013 neuer Name von GenCorp) weiterhin.
1978 gründete RKO General erneut eine Produktionsfirma (RKO Pictures Inc.), die zusammen mit den Universal Studios fünf Filme produzierte (1982 »Das schönste Freudenhaus in Texas«, »Grenzpatrouille«, »Katzenmenschen«; 1985 »Eine demanzipierte Frau«; 1986 »Half Moon Street«; 1987 »Hamburger Hill«). RKO Pictures wurde 1987 von der Wesray Capital Corporation übernommen und mit der Freizeitpark-Kette Six-Flags, die ebenfalls zu Wesray gehörte, zusammengeschlossen (RKO/Six Flags Entertainment Inc.).
Wesray verkaufte RKO Pictures 1998 weiter an das Unternehmen Pavilion Communications, das dem Produzenten und Schauspieler Ted Hartley und seiner Frau Dina Merrill, ebenfalls eine Schauspielerin, gehörte. Pavilion und RKO wurden daraufhin unter dem Namen RKO Pictures LLC. zusammengeschlossen. Seitdem entstanden unter bei RKO wieder einige Filme, u.a. »Gegen jeden Zweifel« (2009), ein Remake des RKO-Films »Jenseits allen Zweifels« (1956), »Saiten des Lebens« (2012) und »Secret Agency – Barely Lethal« (2015).
Die Rechte an den originalen RKO-Filmen bis 1959 gingen im Laufe der Jahrzehnte durch mehrere Hände (C&C Television, TransBeacon, United Artists, Marian Pictures, GenCorp/RKO, Ted Turner, MGM/UA, Turner Entertainment). Heute gehören sie der WarnerMedia-Tochter Turner Entertainment.
Text: Toralf Czartowski