Markenlexikon
In den 1950er Jahren, als sich Fernsehgeräte in den Wohnstuben ausbreiteten und die Existenz der Kinos bedrohten, versuchte Hollywood mit neuen Technologien wie Breitwandfilmen, die von den damaligen kleinen Fernsehern nicht nachgeahmt werden konnten, weiterhin Zuschauer in die Kinos zu locken.
Robert Gottschalk (1918 – 1982), der ein Kamerageschäft in Westwood Village/California betrieb, wo Filmleute aus Hollywood Stammkunden waren, beschäftigte sich zu dieser Zeit mit anamorphotischen Objektiven für die Unterwasserfotografie. Als Erfinder dieser Objektive gilt der französische Astronom Henri Chrétien (1926/1927).
Als 1953 mit CinemaScope das erste anamorphotische Breitwandverfahren in der Filmproduktion zum Einsatz kam, erkannte er seine Chance, zumal er von einem seiner Lieferanten erfahren hatte, dass die Optikfirma Bausch & Lomb, die 20th Century-Fox mit den CinemaScope-Projektionsgeräten beliefern sollte, Schwierigkeiten hatte, den Auftrag fristgemäß zu erfüllen.
Gemeinsam mit dem Kameramann und Regisseur John Richard Moore (1925 – 2009), dem Kameramann Meredith Merle Nicholson (1913 – 2005), dem Optiker Walter Wallin und William Mann, der über Fertigungskapazitäten verfügte, gründete Gottschalk 1954 die Firma Panavision, die zunächst anamorphotische Objektive für CinemaScope-Projektoren herstellte. Die Super-Panatar-Objektive hatten ein variables Prismensystem, wodurch mit dem demselben Projektor verschiedene Filmformate gezeigt werden konnten.
Da mit dem CinemaScope-Verfahren auf 35-Millimeter-Film keine Nahaufnahmen in guter Qualität möglich waren, und von Todd-AO auf 70-Millimeter-Film keine 35-Millimeter-Kopien angefertigt werden konnten, entwickelten Panavision und Metro-Goldwyn-Mayer für den geplanten Historienfilm »Ben Hur« (1959) ein eigenes Breitwandverfahren (MGM Camera 65), das diese Schwächen beseitigte. Die alten Mitchell-Kameras aus den 1930er Jahren, die man für dieses System verwendete, wurden auf 65-Millimeter-Film umgerüstet und mit Panavision-Objektiven ausgestattet; aufgrund des breiteren Filmmaterials mussten die Objektive das Bild nur geringfügig verzerren. Aus dem Filmnegativ konnten 70-Millimeter- oder 35-Millimeter-Vorführkopien erstellt werden.
1962, als sich MGM wegen des Flops »Meuterei auf der Bounty« in finanziellen Schwierigkeiten befand, erwarb Panavision die Kamera-Abteilung von MGM. Camera 65 wurde daraufhin in Ultra Panavision 70 umbenannt, aber nur bei wenigen Filmen verwendet (u. a. 1962 »Meuterei auf der Bounty«, 1963 »Eine total, total verrückte Welt«, 1964 »Der Untergang des Römischen Reiches«, 1965 »Die größte Geschichte aller Zeiten«, 1965 »40 Wagen westwärts«, 1966 »Khartoum«). Ein weiteres 70-Millimeter-Breitwandverfahren war Super Panavision 70 (ab 1959), das ebenfalls nur bei einigen Großproduktionen zum Einsatz kam (u. a. 1960 »Exodus«, 1961 »West Side Story«, 1962 »Lawrence von Arabien«, 1964 »Cheyenne«, 1964: »My Fair Lady«, 1966 »Grand Prix«, 1968 »Eisstation Zebra«, 1968 »2001: Odyssee im Weltraum«, 1969 »Krakatoa«).
Mitte der 1950er Jahre entwickelte Panavision ein Objektiv für Filmlabors (Micro Panatar), mit dem von anamorphotischen Negativen normale Abzüge für Kinos ohne anamorphotisches System erstellt werden konnten. Zuvor hatten die Studios bei den Dreharbeiten häufig zwei Kameras verwendet, eine mit einer anamorphotischen Optik und eine mit einer sphärischen.
Der Durchbruch gelang Panavision 1958 mit dem Auto-Panatar-Kameraobjektiv, das Verzerrungen bei Nahaufnahmen, die bei bis dahin verwendeten CinemaScope-Kameraobjektiven auftraten, durch eine neuartige Mechanik beseitigte. Für dieses Objektiv bekam Panavision 1959 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences einen Oscar für Wissenschaft und Entwicklung (Academy Scientific and Engineering Award).
Ab Mitte der 1960er-Jahre vermietete Panavision sein Equipment (Mitchell-Filmkameras, Panavision-Objektive) nur noch an die Filmstudios. In dieser Zeit verdrängte Panavision in Hollywood immer mehr CinemaScope und andere Breitwandverfahren. Die Nachfrage war so groß, dass das Unternehmen sogar modifizierte alte CinemaScope-Objektive von Bausch & Lomb in Panavision-Gehäuse einbaute. 1967 entwickelte Panavision die alten Mitchell-Kameras zur Panavision Silent Reflex (PSR) weiter, die einen Spiegelreflexsucher besaß. Die PSR war außerdem leichter und leiser.
Um an zusätzliches Kapital zu kommen, verkaufte Robert Gottschalk das Unternehmen 1965 an Banner Productions, blieb aber weiterhin Präsident; die anderen Gründer waren schon früher aus der Firma ausgeschieden. Banner wurde 1968 von dem Mischkonzern Kinney National Service (Bestattungsunternehmen, Comic-Verlage, Garagen, Parkhäuser, Reinigungsfirmen, Talent-Agenturen, Warner Bros. Pictures) übernommen. Nachdem alle Geschäftsbereiche, die nichts mit Medien zu tun hatten, verkauft worden waren, benannte sich Kinney 1972 in Warner Communications um.
1972 brachte Panavision die 35-Millimeter-Spiegelreflex-Filmkamera Panaflex (Panavision Reflex Camera) auf den Markt. Sie eignete sich sowohl für Hand- als auch für Studioaufnahmen. Die Panaflex und ihre Weiterentwicklungen wurden im Laufe der nächsten Jahre zum Standard in der Filmindustrie. Lediglich die deutsche Firm Arri hat auf diesem Markt eine ähnliche Stellung. Für die Panaflex erhielt die Firma 1973 erneut einen einen Oscar für Wissenschaft und Entwicklung.
Nach dem Tod von Robert Gottschalk verkaufte Warner Communications das Unternehmen 1982 an Ted Field (Gründer von Interscope), John Farrand (ein Warner-Manager) und Alan Hirschfield (ein früherer Chef von Columbia Pictures und 20th Century-Fox). 1987 wurde die britische Holdinggesellschaft Lee International (Colortran, Joe Dunton Cameras, Lee Electric, Lee International Film Studios, Mitchell Camera, Shepperton Film Studios) neuer Eigentümer. Ab 1989 befand sich das Unternehmen in der Hand mehrerer Investmentgesellschaften.
Neben analogen 35-Millimeter- und 65-Millimeter-Filmkameras verleiht das Unternehmen mit Sitz Woodland Hills/California auch digitale Kinokameras sowie Licht- und Transport-Equipment für die Produktion von Kino- und Fernsehfilmen. Der im Filmvor- bzw. -abspann benutzte Hinweis »Filmed in Panavision« bedeutet, dass der Film in einem Panavision-Breitwandformat gedreht wurde, »Filmed with Panavision«, dass Panavision-Geräte verwendet wurden.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Public Domain