Markenlexikon
Die aus Marokko stammenden Brüder Armand, Georges, Maurice und Paul Marciano betrieben zunächst mehrere Bekleidungsgeschäfte an der französischen Riviera. Nachdem der Sozialist François Mitterrand 1981 in Frankreich an die Macht gekommen war und die Wirtschaftspolitik nach links verschob (Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Banken, Verkürzung der Arbeitszeiten, Festlegung von Mindestlöhnen etc.) schlossen die Marcianos ihre Läden und gingen nach Los Angeles, wo sie in Beverly Hills ein neues Geschäft eröffneten. Hier verkauften sie vor allem von Georges Marciano entworfene Designer-Jeans, die sie von regionalen Bekleidungsherstellern nach ihren Vorstellungen anfertigen ließen. Zur Entstehung des Namen Guess (engl. ratet mal, erraten, erahnen) gibt es folgende Anekdote. Eines Tages fuhr Georges an einer McDonald's-Werbetafel vorbei, woraufhin er den Fahrer fragte, welches Restaurant in der Stadt den größten Cheeseburger hatte. Als er zu seinen Brüdern zurückkehrte, sagte er: Ich glaube, ich habe unseren Namen gefunden. Ratet mal.
Im Dezember 1981 flog Georges mit einem Stapel seiner Jeans nach New York, wo er die Verantwortlichen des Warenhauses Bloomingdale's trotz seiner beschränkten Englischkenntnisse davon überzeugen konnte, sie in ihr Sortiment aufzunehmen. Obwohl sie mit einem Preis von sechzig Dollar recht teuer waren, konnten sie innerhalb kurzer Zeit verkauft werden.
Paul Marciano, der von Werbung eigentlich keine Ahnung hatte, entwickelte für die Jeans seines Bruders eine ganz neue Form der Präsentation. Anstatt die Models in typisch kühler Studioatmosphäre zu fotografieren, wie es andere Bekleidungshersteller taten, ließ er sie im Freien in provokanten Posen auf körnigen Schwarz-Weiß-Fotos ablichten. Die sexy Anzeigen sicherten der neuen Marke viel Aufmerksamkeit und die Models, die für Guess-Jeans vor der Kamera standen, wurden später weltberühmt (u. a. Anna Nicole Smith, Carre Otis, Claudia Schiffer, Eva Herzigova, Naomi Campbell).
Das Jahr 1982 brachte für die Guess-Jeans den Durchbruch. Gleichzeitig vergab Guess eine Lizenz für Herrenbekleidung an die Firma Jeff Hamilton (ab 1986 produzierte Guess die Herrenbekleidung selbst). Da die Marcianos für die weitere Expansion ihres Unternehmens Kapital benötigten, taten sie sich 1983 mit den aus Israel stammenden Brüdern Joseph (Joe) Nakash, Abraham (Avi) Nakash und Raphael (Ralph) Nakash zusammen, denen die Labels Jordache und Gasoline gehörten. Die Nakash-Brüder erwarben fünfzig Prozent an Guess, dafür konnte Guess die Produktionsanlagen von Jordache in Hongkong nutzen und von den billigen Löhnen der dortigen Arbeiter profitieren. Doch schon bald kam es zum Streit zwischen den Brüder-Paaren. Die Nakashs kopierten die Designs von Georges Marciano für ihre eigenen Jeans, die preislich unter denen von Guess lagen. Der erbittert ausgefochtene und teure Streit zog sich bis 1990 hin, als ein Gericht zugunsten der Marcianos entschied und sie ihre Anteile zurückerhielten.
Im Laufe der 1980er und 1990er Jahre stieg Guess nach und nach in weitere Märkte ein: Damenmode, Kindermode, Lederwaren, Handtaschen, Schuhe, Brillen, Parfums, Einrichtungsgegenstände und Uhren. Dabei handelte es sich meist um die Vergabe von Lizenzen an andere Hersteller. Darüber hinaus wuchs auch die Anzahl der eigenen Einzelhandelsgeschäfte stetig, obwohl der Hauptumsatz noch lange von Kauf- und Warenhäusern sowie Fachgeschäften kam. Das änderte sich erst im Laufe der 2000er Jahre. 1993 verließ Georges Marciano das Unternehmen, nachdem es mit seinen Brüdern Meinungsverschiedenheiten über die Ausrichtung des Unternehmens gegeben hatte. 1996 ging Guess an die New Yorker Börse. Seit 1999 betreibt Guess einen eigenen Onlineshop.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Public Domain