Markenlexikon
Giacinto Ghia (1887 – 1944) ging bei einem Kutschenbauer in die Lehre, anschließend arbeitete er als Testfahrer bei den Turiner Automobilfirmen Rapid und Diatto. Nach einem Unfall, bei dem er sich beide Beine brach, musste er diese Tätigkeit 1915 aufgeben. Anschließend gründete er mit einem Partner die Karosseriebaufirma Carrozzeria Ghia & Gariglio, die sich zunächst mit dem Bau von Aluminium-Karosserien für italienische Autohersteller wie Alfa-Romeo (Alfa Romeo 6C 1500), Fiat (Fiat 508 Balilla) und Lancia (Aprilia) beschäftigte.
Nach dem Tod des Gründers 1944 führten Felice Mario Boano und Giorgio Alberti das Unterehmen weiter. 1951 wurde der Maschinenbauingenieur Luigi Segre neuer Geschäftsführer und als Boano Ghia 1954 verließ, um eine eigene Karosseriebaufirma zu gründen, übernahm Segre das Unternehmen ganz. Zu dieser Zeit entstand das Sportcoupé VW Karmann-Ghia, das von 1955 bis 1974 bei Karmann in Osnabrück als Coupé und Cabrio gebaut wurde. Der Entwurf des Prototypen stammte von Felice Mario Boano und seinem Sohn Gian Paolo, die sich wiederum an einem Prototypen des Chrysler-Designers Virgil Exner orientierten. Das Fahrzeug verkaufte sich besonders in den USA sehr gut.
Wie auch die Konkurrenten Bertone und Pininfarina erweiterte und modernisierte Ghia in den nächsten Jahren die Fertigungsanlagen, um in die industrielle Kleinserienfertigung einsteigen zu können. Außerdem erwarb Ghia die Konkurrenten Carrozzeria Stabilimenti Monviso (1954) und Carrozzeria Pietro Frua (1957). Pietro Frua wurde daraufhin kurzzeitig Designchef von Ghia. Nachdem sich Frua und Segre über die Urheberschaft des Designs für den Renault Floride zerstritten hatten, verließ er Ghia wieder und gründete erneut eine eigene Designfirma (Studio Technico Pietro Frua).
Ghia konzentrierte sich anders als Bertone oder Pininfarina verstärkt auf den US-Markt. Für den Chrysler-Konzern entwarf Ghia mehrere Konzept- und Ausstellungsfahrzeuge (Dream Cars) und übernahm teilweise deren Kleinserienproduktion (Chrysler Ghia Special GS-1, Chrysler Norseman, Chrysler Plainsman, Dodge Firearrow IV, Ghia Gilda, Imperial Crown Imperial, Lincoln Futura, Plymouth Explorer, Plymouth XX500). Daneben fertigte Ghia auch eigene Sportwagen in Kleinserie, die meist auf Fiat-Technik basierten (Ghia L6.4, Ghia 1500 GT, Ghia 230 S, Ghia 450), und Sonderversionen regulärer Fahrzeuge (Aston Martin DB2/4 Supersonic, Fiat 2300 Coupé/Club/Cabrio, Fiat 8V Coupé, Jaguar XK120 Supersonic ).
Luigi Segre verstarb Anfang 1963 im Alter von nur 44 Jahren infolge einer Blinddarmoperation. Ende 1965 wurde Giorgetto Giugiaro, der zuvor bei Bertone gearbeitet hatte, Chefdesigner von Ghia. Er entwarf mehrere Sportwagen für Isuzu (117 Coupé), De Tomaso (Vallelunga Pampero, Mangusta), Maserati (Ghibli) und Iso Rivolta (Iso Fidia). Besonders der Maserati Ghibli, der in einer nur sehr kurzen Zeit von drei Monaten entstand, gilt als einer der schönsten Sportwagen der 1960er Jahre. Noch mehr hätte der Mangusta das Zeug zu einer langen Karriere gehabt, zumindest was das Design betraf. Doch aufgrund seines schlechten Fahrverhaltens wurden insgesamt nur 400 Exemplare gebaut.
1966 wurde Ramfis Trujillo, der Sohn des 1961 ermordeten dominikanischen Diktators Rafael Trujillo, kurzzeitig neuer Eigentümer von Ghia. 1967 ging das Unternehmen in den Besitz des Fahrzeugzulieferers Rowan Controller Company (Westminster/Maryland) über, das der Familie von Elizabeth (Isabelle) Haskell gehörte. Haskell, die Tochter des General-Motors-Gründers Bill Durant, war seit 1957 mit dem argentinischen Rennfahrer und Unternehmer Alejandro de Tomaso (1928 – 2003) verheiratet. De Tomaso, der seit 1959 in Modena eine eigene Renn- und Sportwagenfirma betrieb, wurde daraufhin Geschäftführer von Ghia. Er versuchte ab den 1960er Jahren einen breit aufgestellten italienischen Automobilkonzern aufzubauen, um mit der Agnelli-Familie (Fiat) konkurrieren zu können.
1967 wurde der Finne Tom Tjaarda Chefdesigner von Ghia, nachdem Giugiaro sich mit ItalStyle selbstständig gemacht hatte und nur noch als freier Mitarbeiter für Ghia tätig war. Tjaarda entwarf die Karosserie des Sportwagens De Tomaso Pantera, der sich zum erfolgreichsten Fahrzeug von De Tomaso entwickelte (rund 7000 Exemplare). Zu Ghia gehörte seit 1969 auch die Carozzeria Vignale aus Turin, wo der Pantera gebaut wurde.
1970 verkaufte Rowan Controller 80 Prozent von Ghia/Vignale an den Ford-Konzern, über dessen Lincoln-Mercury-Händlernetz der Pantera in den USA verkauft wurde. 1972 übernahm Ford auch die restlichen Anteile. 1974 musste Ford den Verkauf des Pantera jedoch aufgrund der strengen amerikanischen Umwelt- und Sicherheitsauflagen, denen der Sportwagen keineswegs entsprach, einstellen. Alejandro De Tomaso erwarb daraufhin die Herstellungsrechte des Pantera von Ford zurück und ließ ihn erst bei der Carrozzeria Maggiora Turin und dann bei der Carrozzeria Embo Turin weiterbauen. Ghia und Vignale blieben jedoch bei Ford und wurden zu konzerninternen Designstudios. Von 1973 bis 2010 diente das Label Ghia bei Ford nur noch als Zeichen für die oberste Ausstattungsstufe der Ford-Modelle. Inzwischen wurde Ghia durch Vignale ersetzt. Tom Tjaarda blieb bis 1977 bei Ford/Ghia und war u.a. am Design des erfolgreichen Kleinwagens Ford Fiesta beteiligt.
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Public Domain