Markenlexikon
Léon Ernest Gaumont (1864 – 1946), der trotz guter schulischer Leistungen keine Ingenieursausbildung absolvieren konnte, weil seine Eltern nicht vermögend genug waren, eignete sich sein Wissen später auf Abendschulen an. Dabei kam er in Kontakt zu einem Fernglasfabrikanten, dessen Sekretär er wurde. 1893 nahm er eine Stelle als Prokurist bei einer Firma an, die optische und photographische Geräte herstellte. Nachdem sich die Inhaber der Firma, zwei Brüder, verstritten und gegenseitig verklagt hatten, ergab sich für Gaumont die Gelegenheit, das Unternehmen 1895 zu übernehmen. Im gleichen Jahr präsentierten die Brüder Auguste und Louis Lumière in Paris erstmals ihren Cinématographen, ein Gerät das aus Kamera, Kopiergerät und Projektor bestand. Gaumont war bei dieser Vorführung anwesend und sofort begeistert. Fortan baute er ebensolche Apparate, wobei er sich die Hilfe des Erfinders Georges Démeny sicherte, der bereits 1892 ein ähnliches Gerät entwickelt hatte (Photophone). Démeny entwickelte das Photophone nun zum Chronophotograph weiter.
Nachdem sich Gaumont die finanzielle Unterstützung einer Bank sowie anderer einflussreicher Persönlichkeiten (u.a. Gustave Eiffel) gesichert hatte, begann das Unternehmen 1897 mit der Herstellung von Filmen. Die Idee dazu hatte Gaumonts Sekretärin Alice Guy-Blaché, die auch die Leitung des neuen Studios übernahm und selbst zahlreiche Kurzfilme drehte. Sie war die erste weibliche Regisseurin in der Filmindustrie. Als sie 1906 die Leitung der Gaumont-Filiale in Berlin übernahm, wurde der frühere Zeitungsredakteur und Drehbuchautor Louis Feuillade neuer Studiochef, künstlerischer Leiter und Regisseur. Unter seiner Leitung entstanden Filmserien wie »Fantômas« (5 Teile, 1913/1914), »Die Vampire« (10 Teile; 1915/1916), »Judex« (12 Teile; 1916) und »Barrabas« (12 Teile; 1919/1920).
Ab 1906 eröffnete Gaumont auch eigene Kinos. Als die Vorführgeräte und Lautsprechersysteme zur musikalischen Untermalung der Stummfilme immer besser wurden und immer größere Menschengruppen beschallen konnten, wuchsen auch die Kinos zu prunkvollen Palästen heran. Das Gaumont-Palace in Paris, wo Gaumont auch seinen Firmensitz hatte, war bei seiner Eröffnung 1911 mit 3400 Plätzen das größte Kino der Welt. Später hatte es so sogar 6000 Plätze.
Gaumont wuchs neben Pathé bald zur führenden französischen Filmgesellschaft heran mit Niederlassungen in Barcelona, Berlin, Budapest, Kalkutta, London, Montréal, Moskau, New York, Saigon und Wien. Ab 1903 verwendete Gaumont erstmals das Margeritenlogo, das bis heute in abgewandelter Form in Gebrauch ist. Es entstand in Anlehnung an den Vornamen von Leon Gaumonts Mutter Marguerite.
Während des 1. Weltkriegs produzierte die Firma u.a. Apparate für die drahtlose Telegraphie, Beobachtungskameras und Peilgeräte. Daneben drehte man Serien, Wochenschauen und Propagandafilme. Als nach Kriegsende Hollywood-Filme den französischen Markt eroberten, ging es mit dem Unternehmen wirtschaftlich bergab. 1925 stellte Gaumont die Filmproduktion ein und betätigte sich nur noch als Filmverleiher und Kinobetreiber. Als sich Léon Gaumont 1930 aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzog, wurde seine Firma mit Aubert Franco Film fusioniert und in eine Aktiengesellschaft umgenwandelt. Das Aufkommen des Tonfilms und die damit verbundene kostspielige Umrüstung der Kinos, die Weltwirtschaftskrise und der Konkurs der Bank, die das fusionierte Unternehmen finanziert hatte, rissen Gaumont 1935 mit in den Abgrund.
1938 wurde Gaumont von der französischen Nachrichtenagentur Havas, dem Vorläufer der Agence France Press (AFP), übernommen. 1942, nachdem die Deutschen Teile Frankreichs besetzt hatten, konnte Gaumont wieder in die Filmproduktion einsteigen. Insgesamt entstanden bei Gaumont aber nicht in dem Maße Filme, wie man es von den großen Hollywood-Studios kennt. Gaumont konzentrierte sich weiterhin mehr auf den Verleih und die Kinokette.
Die 1898 gegründete britische Niederlassung Gaumont British wurde 1922 von dem Bankier und Finanzier Isidore Ostrer übernommen. Die Firma betrieb damals die größte britische Kinokette und seit 1915 auch ein Studio in Shepherd's Bush im Westen Londons (Lime Grove Studios). 1932 schloss sich Gaumont British mit der Filmproduktionsfirma Gainsborough Pictures zusammen, der die Islington Studios gehörten. Die Filmproduktion wurde jedoch schon gegen Ende der 1930er Jahre wieder eingestellt, nachdem es nicht gelungen war, auch auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen. 1941 ging Gaumont British in den Besitz von Joseph Arthur Ranks Filmkonzern Rank Organisation (Denham Film Studios, Odeon Cinemas, Paramount Cinemas, Pinewood Film Studios) über. Die Gaumont-Kinos wurden daraufhin in die Odeon-Kette integriert.
1975 wurde Gaumont mehrheitlich von Nicolas Seydoux übernommen, einem der Erben der Schlumberger-Familie. Seine Eltern waren der Geophysiker René Seydoux Fornier de Clausonne und Geneviève Schlumberger, die Tochter von Marcel Schlumberger, dem Mitbegründer des ursprünglich französischen Schlumberger-Konzerns (Erdölexplorations- und Ölfeldservice), der seinen Sitz heute in den Niederlanden hat. Seinem Bruder Jérôme Seydoux gehört seit 1992 der französischen Filmkonzern Pathé.
Inzwischen hat sich der Schwerpunkt bei Gaumont wieder in Richtung der Film- und Fernsehproduktion verschoben. Die Kinokette in Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz wurde 2001 in ein Jointventure mit Pathé eingebracht und 2017 ganz an Pathé verkauft. Nachdem sich Gaumont 1999 für einige Zeit aus dem TV-Geschäft zurückgezogen hatte, kehrte man 2008 wieder in diesen Bereich zurück. 2010 beteilige sich Gaumont an der Produktions- und Vertriebsgesellschaft Firma Légende, die ebenfalls TV-Filme und -Serien produziert.
Zu den bekanntesten Gaumont-Filmen und-Fernsehserien zählen u.a. »Fantômas« (1913/1914), »Die Vampire« (1915/1916), »Judex« (1916), »Barrabas« (1919/1920), »Kameradschaft« (1931), »Atalante« (1934), »Die 39 Stufen« (1935; Gaumont British), »Eine Dame verschwindet« (1938; Gaumont British), »Zwei in Paris« (1947), »Mein Leben für die Liebe« (1953), »Das große Restaurant« (1966), »Oscar (1967), »Don Giovanni« (1979), »La Boum – Die Fete« (1980), »Danton« (1982), »La Boum 2 – Die Fete geht weiter« (1982), »Fanny und Alexander« (1983), »Betty Blue« (1986), »Im Rausch der Tiefe« (1988), »Nikita« (1990), »Die Besucher« (1993), »Robin Hood – Helden in Strumpfhosen« (1993), »Léon – Der Profi« (1994), »Highlander: The Animated Series« (1995 – 1996), »Das fünfte Element« (1997), »Ziemlich beste Freunde« (2011), »Hannibal« (2013 – 2015; für NBC), »Narcos« (2015 – 2017; für Netflix), »Hemlock Grove« (2013 – 2015; für Netflix) und »Barbaren« (2020; für Netflix).
Text: Toralf Czartowski